Antrag: Koloniales Erbe – gesellschafts- und kulturpolitische Aufarbeitung in Niedersachsen weiter verstärken

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Bis heute wird der Kolonialismus in der deutschen Öffentlichkeit so gut wie nicht aufgearbeitet. Das gilt auch für Niedersachsen. Die Fremdherrschaft über Teile Afrikas, Ozeaniens, Amerikas und Asiens ist ein verdrängtes Kapitel europäischer, deutscher, aber eben auch niedersächsischer Geschichte.

In Museen sehen wir verschiedenste Exponate, wie Alltags-, Ritual- und Kunstgegen-stände, aber auch menschliche Überreste, die uns nicht gehören. Unsere Straßen tragen Namen von Räubern und gewalttätigen Befehlshabern in den ehemaligen Kolonien des Deutschen Reiches. An Schulen wird häufig nicht differenziert über Kolonialismus im Allgemeinen und noch weniger über den deutschen Kolonialismus im Spezifischen gesprochen. Aus dieser kolonialen Geschichte resultieren rassistische Ressentiments. Der deutsche Kolonialismus, der auch für Niedersachsen relevant war, bleibt bis heute häufig unerwähnt oder wird im Vergleich mit anderen Kolonialländern kleingeredet. Dabei ist erstens ein Vergleich verschiedener Gräueltaten mit dem Ziel der Verharmlosung einer Tätergruppe unangebracht und zweitens haben deutsche Kolonialist*innen Menschenrechtsverbrechen begangen, die durch nichts schönzureden sind.

Der Kolonialismus ist Teil des deutschen und eben auch des niedersächsischen Alltags gewesen. So hat sich der Kolonialismus auch auf eine einseitige, politisch motivierte Entwicklung ganzer Wissenschaften ausgewirkt, wie z.B. der Anthropologie. Auch Teile der Wirtschaftsstruktur in Niedersachsen sind kolonial begründet, wie z.B. Reifenindustrie, Keksindustrie oder Schiffbau.

Dies alles zeigt, wie wichtig die wissenschaftliche und gesellschaftliche Aufarbeitung ist. Der Provenienzforschung kommt eine besondere Bedeutung zu. Sie muss eine der zentralen Aufgaben für Museen der heutigen Zeit sein. Dabei ist die Aufarbeitung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten als ein von der Aufarbeitung NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter klar zu trennender Sachverhalt zu behandeln. Die Provenienzforschung beschränkt sich nicht einzig und allein auf die Rückgabe von Objekten, vielmehr handelt es sich um einen vorgelagerten langen Prozess; denn jeder Fall ist ein Einzelfall.

Ziel von Provenienzforschung ist nicht nur die Rückgabe, sondern vor allem auch die kritische Auseinandersetzung in Deutschland und Niedersachsen voranzubringen. Denn eines muss klar sein: Die Folgen des deutschen und europäischen Kolonialismus sind bis heute spürbar! Kommt es zu einer Restitution, also einer Rückgabe, so muss der gesamte Prozess als Auftakt zu einer langfristigen Kooperation verstanden werden.

Auch wenn Fragen der Provenienzforschung und Restitution in den letzten Jahren in Europa und Deutschland an Bedeutung zugenommen haben, stehen wir hier erst am Anfang. Das gilt auch für Niedersachsen, trotz des bereits 2015 unter Rot-Grün ge-gründeten Netzwerks Provenienzforschung und dem zurzeit von der Volkswagenstiftung geförderten Projektes PAESE sowie einzelnen, etwa vom Magdeburger Zentrum für Kulturgutverluste und anderen geförderten Projekten.

Zusätzlich zur Provenienzforschung in Museen sowie Sammlungen und damit der Aufarbeitung von Sammlungsgut kolonialen Ursprungs muss das Thema Kolonialismus breiter in den gesellschaftlichen Debatten geführt werden. Dazu gehört zuallererst, dass in den schulischen Kerncurricula das Thema intensiviert wird, was wiederum eine Stärkung universitärer Forschung voraussetzt. Zwar ist die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte bereits Bestandteil einzelner Fächer (wie z.B. Erdkunde), wird hier aber zu wenig vor dem Hintergrund der Verantwortung Deutschlands thematisiert und sollte zukünftig interdisziplinär und zu verschiedenen Zeiten der individuellen schulischen Laufbahn wiederholend und aus verschiedenen Fachrichtungen betrachtet werden. Auf diese Weise kann eine notwendige, intensive Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus in der Schule gewährleistet werden.

Für die gesellschaftliche Debatte ist es notwendig, Provenienzforschung und gesamtgesellschaftliche Verantwortung zusätzlich in der Erwachsenenbildung stärker zu verankern. Dazu gehört auch, Aufklärung und Sensibilisierung über bestehende Ungleichbehandlungen in Folge unbewusster Vorurteile in der Gesamtgesellschaft zu leisten. Nur so kann das eigene Handeln rassismuskritisch hinterfragt werden. Dies gilt in besonderem Maße für unsere Sicherheitskräfte.

Provenienzforschung und Bildungsarbeit müssen gemeinsam gedacht werden. Beides muss dabei zwingend unter direkter Beteiligung der Menschen aus den Herkunftsgesellschaften entwickelt und bearbeitet werden. Das bedeutet nicht nur Orte, sondern auch Sprach-, Denk- und Bildungsräume müssen in einer zivilgesellschaftlichen Debatte, die Nachfahren der Kolonialisierten genauso miteinbezieht wie die internationale Forschung, diskutiert werden.

Vor diesem Hintergrund fordert der Landtag die Landesregierung auf,

  • auf der Grundlage internationaler Forschung und unter maßgeblicher Beteiligung von Nachfahren der Opfer der niedersächsischen, deutschen und europäischen Kolonialverbrechen und zivilgesellschaftlichen Initiativen ein Konzept für eine Erinnerungs- und Bildungsstätte in Niedersachsen entwickeln zu lassen, die
    • die niedersächsische, deutsche und europäische Kolonialherrschaft und die Konsequenzen des Kolonialismus für Afrika, Asien, Amerikas und Ozeaniens, aber auch für Europa, Deutschland und Niedersachsen selbst adressiert;
    • den Widerstand der Kolonisierten würdigt;
    • an die unterworfenen, vertriebenen und ermordeten Opfer der niedersächsischen, deutschen und europäischen Kolonialherrschaft und damit verbundenen Verbrechen erinnert;
    • ein beständiges Zeichen gegen Rassismus sowie postkoloniale Ausbeutung und Hegemonie setzt.
  • für die Provenienzforschung in Niedersachsen finanzielle Mittel dauerhaft und in dem Umfang zur Verfügung zu stellen, dass die Objekte in kulturgutbewahrenden Einrichtungen umgehend und intensiv von unabhängigen Expert*innen auch aus den Herkunftsländern erforscht werden können,
    • dabei sind bestehende gemeinsame Forschungsprojekte und -kooperationen mit Wissenschaftler*innen aus den betroffenen Herkunftsländern und -gesellschaften zu entwickeln sowie bestehende zu verstetigen und zu intensivieren.
    • ein besonderer Schwerpunkt der Zusammenarbeit ist dabei auf die gemeinsame Ausbildung von Menschen aus diesen Ländern und Niedersachsen zu legen.
  • alle Objekte in Museen und ethnologischen Sammlungen in Niedersachsen unter Beteiligung von Wissenschaftler*innen aus den Herkunftsländern und -gesellschaften zu inventarisieren und ausgehend von den jeweiligen Vorstellungen von Zugänglichkeit zu digitalisieren. Darüber hinaus mit Kirchen, Stiftungen und privaten Sammlungen zur Frage des Umgangs und der Digitalisierung der bei ihnen vorhandenen Artefakte ins Gespräch zu kommen, mit dem Ziel, dass auch dort verfahren wird wie in den landeseigenen Sammlungen.
    • Alle so erfassten Daten zu Objekten in Museen und ethnologischen Sammlungen sind vollständig, transparent und am besten online für alle zugänglich zu machen.
  • haushaltsrechtliche Grundlagen für die Rückgabe zu schaffen.
  • Leitlinien für die Rückgabe von Objekten zu erstellen, die berücksichtigen, dass nicht immer Herkunftsstaaten die richtigen Ansprechpartner*innen sind. Die Leitlinien müssen individuelle Entscheidungen berücksichtigen und den Dialog mit allen Beteiligten vor Ort ermöglichen.
  • ein Kolonialismus-Institut an einer niedersächsischen Hochschule einzurichten und sich für eine gemeinsame Bund-Länderstelle zur Koordinierung der Forschungs- und Restitutionsvorhaben einzusetzen, welche eng mit den Expert*innen der Herkunftsgesellschaften zusammenarbeiten.
  • zu Bildungszwecken Anschauungsmaterialien in Niedersachsen zu identifizieren und vorzuhalten. Dazu ist mit den Eigentümer*innen gemeinsam zu erarbeiten, welche Objekte dies sein können und wie sie zu präsentieren sind.
  • generell bei allen (Bildungs-)Aktivitäten des Landes Niedersachsen, bei denen das Thema Kolonialismus eine Rolle spielt, müssen Vertreter*innen der Betroffenen in Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse einzubinden. Dazu gehört auch, dass in relevanten Kontexten zu Kolonisation und/oder kolonialen Orten mehr Menschen aus den Herkunftsstaaten/-gesellschaften arbeiten müssen (mehr Lehrkräfte und Forscher*innen of colour).
  • Ursachen, Wirkung und die verheerenden Folgen von Kolonialismus wie „white supremacy“, „racial profiling“ und dergleichen mit Bezügen zur Gegenwart ins Bewusstsein zu rufen. Dies wird erreicht durch:
    • eine enge Zusammenarbeit in allen kolonialen Kontexten mit den Menschen aus den Herkunftsgesellschaften und deren Vertretungen hier bei uns sowie mit Forschungs- und Bildungseinrichtungen und zivilgesellschaftlichen Initiativen der Herkunftsgesellschaften, z.B. durch gemeinsame Projektentwicklung, wie z.B. Geschichtsschreibung aus Sicht der Opfer.
    • Dazu werden sämtliche Kerncurricula, insbesondere Politik-Wirtschaft, Erdkunde, Geschichte, Deutsch sowie die europäischen Fremdsprachen dahingehend geprüft und ggf. erweitert. Hier muss verstärkt auf die Geschichte des europäischen und insbesondere des deutschen Kolonialismus eingegangen werden und ein eindeutiger Zusammenhang hergestellt werden zwischen der Historie und den aktuellen Wirtschaftsbeziehungen sowie der Bewusstseinsbildung, dass viele wissenschaftliche Erkenntnisse, wie z.B. in der Klima- oder Genforschung, auf „human remains“ kolonialen Ursprungs beruhen.
    • Den Schulen sollen zur Unterstützung didaktische Materialien bereitgestellt werden. Dazu sind Gespräche mit den Schulbuchverlagen zu führen und verbindliche Standards für die Thematisierung des Kolonialismus festzulegen.
    • Es werden digitale Begegnungsräume, außerschulische Lernorte und weitere Lernangebote zum Thema gefördert.
    • Ein Antirassismustraining rundet die schulischen Angebote ab.
    • Es müssen Angebote für die Erwachsenenbildung entwickelt und ausgebaut werden. So ist es notwendig, u.a. die Entwicklung von Lehrmaterial zu Kolonialismus-Aufklärung zu fördern.
    • Ein Antirassismustraining ergänzt auch die Angebote in der Erwachsenenbildung, insbesondere für kommunale sowie Landesverwaltungsstellen.
  • eine Koordinierungsstelle in zivilgesellschaftlicher Trägerschaft zur öffentlichen Thematisierung des Kolonialismus in Zusammenarbeit mit Initiativen und NGOs der Betroffenen, wie z.B. People of Colour, einzurichten und institutionell zu fördern. Neben der Aufgabe alle wissenschaftlichen, bildungspolitischen und gesellschaftlichen Aktivitäten zu koordinieren und dafür eine Öffentlichkeit herzustellen, hat die Koordinierungsstelle die Aufgabe
    • die bestehenden und noch zu entwickelnden gemeinsamen Projekte und Dialoge mit Studierenden/Schüler*innen/Erwachsenen aus Nord und Süd zu begleiten und aufzubauen
    • und lokale Projekte, die sich mit kolonialer Vergangenheit beschäftigen, zu unterstützen.

Begründung

Die Ereignisse in den USA, sowie die schon länger anhaltenden Debatten in vielen europäischen Ländern (zum Beispiel in Großbritannien „Rhodes must fall“) und nicht zuletzt die vielen Forderungen, wie sie in den vormals kolonisierten Regionen des globalen Südens immer wieder formuliert werden und die daraus entstandene Diskussion zu Rassismus machen aktuell deutlich, dass Deutschland und eben auch Niedersachsen die koloniale Vergangenheit, ihre mit kolonialem Herrschaftsanspruch begründeten Gräueltaten sowie der ebenfalls daraus resultierende Rassismus nicht aufgearbeitet hat.

Viel zu spät haben wir in Niedersachsen damit begonnen, uns mit den vorhandenen Artefakten, Gegenständen und Darstellungen aus kolonialer Zeit zu beschäftigen. Noch heute finden sich in Niedersächsischen Kommunen Straßennamen, die an Persönlichkeiten und Ereignisse in Deutschlands unrühmlicher Kolonialgeschichte erinnern. Diese bleiben oft unreflektiert, gleichwohl sich in den letzten Jahren zahlreiche zivilgesellschaftliche „decolonize“-Initiativen an verschiedenen Orten auch in Niedersachsens gebildet haben.

Die Forschung und Aufarbeitung der niedersächsischen Kolonialgeschichte, ihre Reflexion und die Anerkennung der Kulturgeschichte der Herkunftsgesellschaften müssen daher in Niedersachsen verstetigt und mit dem Bund weiterentwickelt werden.

Darüber hinaus muss das Thema in allen Bildungsbereichen deutlich konkreter und kritischer aufgegriffen werden. Nur so kann es gelingen, Rassismus in Deutschland zu thematisieren, historisch einzubinden und zu überwinden. Dies muss nicht nur über die Überarbeitung von Lehrplänen und Erweiterung von Kerncurricula erfolgen, sondern ganz konkret auch an mit den Eigentümer*innen erarbeiteten Anschauungsmaterial und unter Einbeziehung der Betroffenen, wie z.B. „People of Colour“.

Alltagsrassismus, Ausgrenzung und Vorurteile bestimmter Bevölkerungsgruppen können nur überwunden werden, wenn wir uns in Niedersachsen ernsthaft und dauerhaft mit unserer kolonialen Geschichte auseinandersetzen, und in den Dialog mit den Herkunftsgesellschaften treten, in deren Verlauf es auch zu Rückgaben kommen muss.

 

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